Donnerstag, 9. Januar 2014

Den Hund einfach Hund sein lassen?

Über vermeintliche "Natürlichkeit" versus "Reiz-Reaktions-Monster".

In Internetforen und anderen sozialen Medien kann immer wieder gelesen werden, dass gut trainierte Hunde, die über Lob und Belohnung motiviert werden, zu „hirnlosen Reiz-Reaktions-Maschinen“ gemacht werden würden und Besitzerinnen und Besitzer dieser Hunde alles kontrollieren müssten – der Hund dürfe nicht mehr Hund sein. Alle „Natürlichkeit“ sei verloren gegangen.

Wenn man weiterliest, schleicht sich ganz schnell der Verdacht ein, dass Menschen, die so argumentieren, eine Rechtfertigung dafür suchen, dass einerseits noch der „Rudelführergedanke“ in den Köpfen herumschwirrt und andererseits, dass hier doch gerne mal mit Verhaltenshemmung über Aversion "trainiert" wird. Ein weiterer Verdacht keimt auf,  liegt hier vielleicht ein wenig eigene Trainingsmüdigkeit oder gar Verantwortungslosigkeit vor? Meist kommt dann irgendwann auch die alte Leier „ich konditioniere nicht, ich kommuniziere“ bzw. die Unkenntnis von Basiswissen über das Lernverhalten des Hundes. Hand in Hand mit der Phrase „den Hund einfach mal Hund sein lassen“ werden meist auch solche Allgemeinplätze wie „das regeln die schon unter sich“ und „Hunde sind ja auch nicht gerade zimperlich untereinander, die können das schon ab“ geäußert.


Hat ein Hund mehr Vorteile davon, wenn er nicht häufig trainiert und nur dann, wenn es „nötig“ scheint, über Verhaltenshemmung mit unangenehmen Reizen gestoppt wird oder wenn alle im Alltag notwendigen Dinge bereits aufgebaut und anwendbar sind, also trainiert wurden? Das ist zwangsläufig ja mit mehr Arbeit verbunden und lässt den Besitzer vielleicht wie einen „Kontrollsüchtigen“ und die Hunde für das Auge eines Laien willenlos erscheinen – also wie „Reiz-Reaktions-Maschinen“.
Kommt man ebenso problemlos durch den Alltag, wenn nicht häufig (und wenn, dann meist über Hemmung) mit Hunden trainiert wird und man den Hund sich sonst einfach überlässt? Möchte ein Hund denn in Situationen, die ihn überfordern, nicht von seinem Menschen gesagt bekommen, was er tun soll?

Eine ganz grundlegende Frage ist doch, ob eine „natürliche“ Hundehaltung heute überhaupt noch möglich ist und ob Hunde sich denn nicht als Begleiter des Menschen, in hohem Maße auf Kooperation mit uns ausgerichtet, entwickelt haben und gerade dann besonders gut „Hund“ sein können, wenn sie häufig trainiert und gefördert werden? Was macht einen Hund als Hund aus?

Es würde mich sehr interessieren, wo ein Hund heutzutage noch „einfach mal Hund“ sein kann, außer in weiter Flur oder in den eigenen vier Wänden (und selbst hier geht es nicht immer)? Wo bin ich als Halter denn nicht verantwortlich, für die Dinge, die mein Hund anstellt und anstellen darf? Wo kann ich ohne Rücksichtnahme auf Menschen, Hunde und andere Tiere mit dem Hund unterwegs sein? 

Eigentlich nirgendwo.


Wir haben als Hundehalter heute so viele Auflagen und Gesetze, dass wir unseren Hunden in der Öffentlichkeit eben kaum ein „einfach nur Hund sein“ mehr gönnen können.
Die Ironie hierbei ist, dass viele Regelungen und Gesetze wegen Menschen aufgestellt wurden, die ihre Hunde eben einmal zu oft „Hund hatten sein lassen“.

Ein Hund darf heute nicht mehr jagen und hetzen, er darf nicht einfach herumlaufen und Hunde, Menschen oder andere Tiere belästigen, bedrängen oder gefährden, man kann nicht zulassen, dass einander fremde Hunde Dinge unter sich ausmachen (was sie auch nicht können!) – das geht einfach nicht. Selbst beim Fortpflanzungsverhalten lässt man Hunde eben nicht Hund sein, auch diejenigen, die sich auf diesem Begriff „ausruhen“ und "Natürlichkeit" im Hundetraining propagieren.

Und wie schnell werden heute Situationen, die mit einem einfachen, ruhigen Gespräch und ein wenig gegenseitiger Rücksichtnahme gut zu klären gewesen wären, über das Ordnungsamt, eine Anzeige und den Anwalt abgewickelt?


Hunde sind keine Wölfe mehr, es sind Hunde.
Warum sollten Hunde mit allen (nicht verwandten und selten in einem Haushalt lebenden) anderen Hunden auskommen und es „unter sich regeln“? Und überhaupt, was sollen sie untereinander regeln? Eine „Rangordnung, die es in der Form gar nicht geben kann, aufbauen?“ Mit fremden Hunden? Wofür, wenn man nicht tagein, tagaus Zeit mit diesen Hunden verbringen muss? Finden Sie jeden Menschen, den Sie treffen, sympathisch und wollen sich mit ihm arrangieren?

Vor allem die Hunde, die keine Sozialisierung genossen haben und mit Artgenossen nicht auskommen, wie und wo sollten diese Hunde einfach Hund sein dürfen, manchmal sogar bei Besitzern, die oft nicht erkennen, dass ihr Hund gerade im Begriff ist, andere Personen, Hunde oder Tiere zu bedrängen und zu bedrohen? Gerade hier ist es sinnvoll, den Hund so zu trainieren, dass Gefahren vermeidende Verhaltensweisen parat sind, wenn man sie braucht.

Ganz ehrlich, mir sind Hundebesitzer mit gut trainierten Hunden, die auf andere Rücksicht nehmen (und dabei gerne auch wie Roboter wirken dürfen), allemal lieber als Menschen mit „Tutnixen“ oder „Deristhaltdominant-en“, die ihren Hund unabsichtlich konditioniertes (jawohl, konditioniert, denn auch „soziales Lernen“ unterliegt den Lerngesetzen und ist somit konditioniert, wenn auch ohne menschlichen Einfluss!) „unhöfliches“ Verhalten abspulen lassen, damit er „mal Hund sein kann“, weil, „die regeln das ja unter sich“.

Ich bin mir sicher, dass auch Sie bereits solche Erlebnisse hatten und denke auch, dass Sie sich bestimmt schon einmal über rücksichtslose Hundebesitzer geärgert haben. Wenn Dritte beteiligt sind, sollte es sich mit dem „Hund sein lassen“ eigentlich ganz schnell aufhören.

Gut trainierte Hunde wirken bestimmt ein wenig wie funktionierende Maschinen, insbesondere dann, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen, die mit Umweltreizen gekoppelt sind, unaufgefordert zeigen und man kann natürlich auch ein gutes Training übertreiben.

Es gibt im Alltag Momente, in welchen man sauer auf den Hund ist oder sich sehr freut, diese Momente sind wichtig und gehören außerhalb des Trainings unbedingt dazu. Im Aufbau und beim Üben von Signalen ist jedoch ein klares, konkretes und möglichst nicht emotional beladenes Handeln des Menschen für den lernenden Hund wichtig. Diese Neutralität aber sorgt für die ein wenig roboterhafte und kontrollierte Wirkung.

Manchmal muss ich meine Kunden bitten, ein wenig im Training zurück zu rudern. Es steht außer Frage, dass auch zu viel trainiert werden kann und ein Hund hierdurch überfordert und überlastet wird. Gutes und fundiertes Training findet aber die Balance zwischen sinnvollen Signalen, Auslastung und Entspannung, denn auch das Entspannen und Nichtstun muss erlernt und geübt werden. Ganz allgemein denke ich und sage auch, dass es Tage und Momente gibt und geben muss, an welchen eben nicht trainiert werden kann oder soll. Da kann man zu Hause kuscheln, draußen einfach spazieren gehen oder die Seele baumeln lassen.


Sobald aber andere Hunde, Menschen oder Tiere (z.B. Wild) durch Gedankenlosigkeit oder mangelnde Rücksichtnahme belästigt oder gefährdet werden, muss der Hund kontrolliert werden können. Und hier ist es bestimmt für den Hund angenehmer, wenn er weiß und gelernt hat, was er tun soll, und sei es nur, auf seinen Besitzer zu sehen, um weitere Infos zu bekommen. Das alles möglichst vorher aufgebaut durch Lob und Belohnung, um es bei Bedarf einsetzen zu können, ist für einen Hund bestimmt angenehmer, als geblockt, ge“kscht“tet oder gestraft zu werden, wenn er etwas falsch macht.


Es ist auch fraglich, ob ein Hund, der zu viele Freiheiten hat, glücklicher und mehr Hund ist, als ein trainierter Hund, der ein geübtes Verhalten zeigt. Die meisten Hunde sind durch zu viele Freiheiten überfordert, bekommen dann kein Feedback vom Menschen, treffen die falschen Entscheidungen und werden oft selbst gefährdet. „Mehr Hund“ mit dem Risiko, unangemessenes Verhalten zu lernen und ständig in Konfrontationen zu geraten? Welches Leben ist stressfreier?

Alle diejenigen, die immer von „Bindung und Beziehung statt Training“ und „Kommunizieren statt Konditionieren“ reden, sollten sich doch bitte überlegen, was es für eine Bindung oder Beziehung ist, bei welcher ein Part keinerlei Entscheidungsmöglichkeit hatte, ob er diese Beziehung eingehen möchte und ob man nicht gerade deshalb als Mensch in der Pflicht ist, mit dem Hund freundlich zu trainieren, statt zu hemmen. Klar, auch der gut trainierte Hund kann es sich meist nicht aussuchen, bei wem er lebt, aber er hat einen menschlichen Partner, der sich die Mühe macht, vorauszudenken und zu planen, um nicht grob zu werden – Grobwerden führt meist nicht zu einem Lerneffekt.

Meine persönliche Reiz-Reaktions-Maschine „lacht“ übrigens bei meinen „Kontrollambitionen“, hat offensichtlich Spaß dabei und bietet sogar – erkennbar mitdenkend, also mitnichten hirnlos – selbständig und kreativ Verhalten an. Und das besonders deutlich, wenn ein Clicker mit im Spiel ist.

Abschließend möchte ich sagen, dass ein Training, welches überwiegend die Komponente Lob und Belohnung beinhaltet, nicht über Zwang und Druck vermittelt werden kann. So trainierte Hunde werden nicht gezwungen und sind keine willenlosen Maschinen, denn genau diesen Kadavergehorsam möchte ein guter Trainer nicht haben, sondern einen Hund, der Verhalten anbietet, mitdenkt und kreativ ist.

Die Frage, wann ein Hund denn Hund sein kann, muss leider jeder für sich selbst beantworten. Ich denke jedoch, dass eine gesunde Balance zwischen Trainieren und Trainingspausen sehr wichtig sind. Ein Aufbau von Signalen, die in Alltagssituationen nötig sind, sollte jedoch so erfolgt sein, dass sie abrufbar sind. Das macht Arbeit und bedingt eben auch eine gewisse Reiz-Reaktions-Verknüpfung, hilft einem Hund aber ungemein. Und dies wiederum sollte immer in Ruhe konditioniert und nicht im Stress "kommuniziert" werden.

Allen Hunden und Hundebesitzern wäre bestimmt am meisten geholfen, wenn wir gegenseitig rücksichtsvoller wären und uns nicht stets via Internet und vielleicht auch via Anwalt bekriegen und schädigen würden. Einfach auch im Sinne unserer Hunde.

Allen Lesern übrigens noch beste Wünsche für das neue Jahr!